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Sind die Juden Semiten oder Chasaren?


Gabriel A. Goldberg, M.A.

„Es gab nie einen jüdischen Tempel.“

„Jesus war Palästinenser.“

„Die Palästinenser sind die Nachkommen der Kanaaniter und der Philister.”

Solche absurden Behauptungen hört man heute regelmäßig von Sprechern der Palästinensischen Autonomiebehörde bei einem groben Versuch, die uralte Geschichte umzuschreiben. Das ist Teil einer Kampagne, eine jüdische Verbindung zum Land Israel zu negieren, ja Juden überhaupt aus der Geschichte auszuklammern.

Ehe man solche irrsinnigen Aussagen als verfehlt zurückweist, sollte man bedenken, dass die arabische Welt die Geschichte des arabisch-israelischen Konflikts in den letzten 40 Jahren erfolgreich umgeschrieben hat. Die Sympathie der Welt für Israel, bis Anfang der 1970er noch vorhanden, wurde ersetzt. Heute wird im Allgemeinen weltweit die palästinensische Sicht der Dinge akzeptiert und formt die UN-, EU-, und zunehmend auch die US-Politik im Nahen Osten.

Einer der gemeinsten Versuche, Juden heutzutage historisch zu entrechten, ist die These, Juden seien nicht wirklich Juden oder gar keine Semiten. Erstaunlicherweise sind sogar einige pro-israelische Aktivisten und Verleger in Israel in den letzten Jahren darauf hereingefallen. Als Verfechter der These gilt auch der palästinensisch-arabische, lutherische Pfarrer Dr. Mitri Raheb, Preisträger des angesehenen Deutschen Medien-Preises 2012 für seinen so genannten Beitrag für ein besseres Verständnis zwischen Christen, Juden und Muslimen.

Bei einer 2010 in Bethlehem abgehaltenen Konferenz „Christ at the Checkpoint“ behauptete Raheb: „[Es ist eine Vermutung], dass das palästinensische Volk und Teile des jüdischen Volkes eine Fortsetzung der einstigen Völker des Landes sind. Es ist nicht Israel … Vielmehr repräsentiert Israel das Rom der Bibel, nicht das Volk des Landes … Müsste man einen DNA-Test machen bei David aus Bethlehem und Jesus, der in Bethlehem geboren wurde, und [mir], bin ich sicher, der Test würde eine Spur nachweisen. Nimmt man aber König David, Jesus und Netanyahu, ergäbe sich keine Spur, denn Netanyahu stammt von einem osteuropäischen Volk ab, das sich im Mittelalter zum Judentum bekehrte … Die palästinensischen Christen sind die einzigen in der Welt, die, von ihren Vorfahren sprechend, ihre wirklichen Vorfahren meinen, und auch die Vorfahren ihres Glaubens. Für uns sind es die gleichen.“

Das sind garstige Worte und kaum ein Beitrag zur Verbesserung interreligiöser Beziehungen.

Raheb behauptet recht plump, im Gegensatz zu den palästinensischen Arabern seien die Juden nicht semitischen Ursprungs. Er vergleicht die Juden mit den Römern, die ausländische Eroberer waren – brutale Eindringlinge. Man muss schlussfolgern, die Juden hätten keinen gerechtfertigten Vorfahren-Anspruch auf das Land Israel. Schlimmer noch, sie würden die Palästinenser, die „wahren“ semitischen Nachfahren, ihres Landes berauben.

Er basiert seine Anklage auf einer unbewiesenen, 100 Jahre alten Theorie, die seit den frühen 1990ern gründlich diskreditiert wurde. Die Theorie: Die Mehrheit der Juden heute, mit europäischem oder aschkenasischem Hintergrund, sind keine Nachkommen der semitischen Nahost-Vorfahren, sondern der ehemals nomadischen Turken-Stämme, den Chasaren, von Zentralasien, die sich im Laufe des 9. Jahrhunderts zum Judentum bekehrten. Diese Chasaren-Theorie wurde durch ein Buch von Arthur Koestler verbreitet und erweckte den Anschein von Historizität.

Raheb propagiert eine Ersatzgeschichte (in der die Palästinenser die Juden ersetzen) und verlässt sich auf entlarvte Rassentheorien, um das jüdische Volk zu enterben. Als heutiger Verfechter des Chasaren-Mythos mit einer standhaft pro-palästinensischen Politik-Agenda ist er gleichgesinnt mit radikalen Anti-Israel-Propagandisten, Neo-Nazis und Weißen Suprematisten, die die jüdische Nation delegitimieren wollen. Deren letztes Ziel ist die Dekonstruktion Israels.

Die Chasaren werden jüdisch

Das Chasarische Reich bestand vom 7. bis 10. Jahrhundert und lag nördlich des Schwarzen Meeres, des Kaukasischen Gebirges und des Kaspischen Meeres (heute Ukraine und Westrussland). In seiner Blütezeit kam es dem Byzantinischen Reich und dem islamischen Kalifat an Macht gleich. Im 9. Jahrhundert wurde das Judentum mit der Bekehrung von König Bulan vom Heidentum zum Judentum dort Staatsreligion. Das Chasarische Reich ging nach zunehmenden Angriffen durch die Kiewer Rus im Norden und durch Muslime im Süden unter.

Einige Historiker glauben, nur die Könige und die Aristokraten hätten konvertiert. Andere meinen, viele des Volkes hätten es ihnen gleich getan. Wie auch immer, Hinweise auf die Chasaren und deren Jüdischsein finden sich in den historischen Aufzeichnungen dieser Zeit – von christlichen, jüdischen und muslimischen Quellen.

Eine Theorie wird zum „Fakt“

Die Theorie, die meisten Juden heute würden von Chasaren-Konvertiten abstammen, kommt von den Rassen-, und oft rassistischen Theorien, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts  populär waren, und wurde später von bekannten Antisemiten, wie Henry Ford, propagiert. In den 1950ern vertraten dies sogar einige jüdische Intellektuelle.

Säkulare jüdische Intellektuelle in der Diaspora, assimiliert und antizionistisch, denen die Rolle eines auserwählten Volkes nicht behagte, und die gegen jüdisches Unternehmen in Palästina waren, argumentierten, Jüdischsein sei allerhöchstens ein Glaube, nicht jedoch eine Rasse oder Nationalität. Hoffend, sie könnten die jüdische Nationalität diskreditieren, stürzten sie sich auf die Gelegenheit, die ihnen die Chasaren-Theorie bot (dass Juden eine Mischung verschiedener Völker seien), und erklärten sie zum Fakt, obwohl historische und archäologische Beweise dies unhaltbar machten.

Das am meisten gelesene Werk eines Fürsprechers für die Chasaren-Theorie war das Buch The Thirteenth Tribe [Der dreizehnte Stamm] (1976) von Arthur Koestler, einem jüdischen Nichthistoriker und Journalisten. Das Werk besteht hauptsächlich aus Spekulationen, enthält zahlreiche Fehler von falsch identifizierten und missdeuteten Etymologien. Naiverweise dachte Koestler, er könne den Antisemitismus entschärfen, indem er zeigt, dass die meisten Juden keine Semiten sind. Wenn Juden keine Semiten sind, so dachte er, gäbe es keine Rechtfertigung für den Antisemitismus. Wie voraussehbar, wurde das Buch stattdessen zum Vorteil für Antisemiten, die jetzt zu ihrem Arsenal von Anschuldigungen hinzufügten, Juden seien Betrüger, weil sie sich als Semiten ausgaben. Heute ist Koestlers Buch weit oben auf den Leselisten von Neo-Nazis, Antisemiten und Israelgegnern.

Fakt und Fantasy muss man trennen

Sind also die Mehrheit der Aschkenasi-Juden, die vor dem Holocaust einst in Polen und anderen osteuropäischen Ländern lebten, und die heute die Mehrheit der Juden in Israel und in der Welt ausmachen, die Nachfahren der Turken-Chasaren-Stämme? Nein.

Schon ehe die Chasaren sich zum Judentum bekehrten und noch ehe sie in Osteuropa ankamen, waren jüdische Gemeinschaften bereits fest angesiedelt in der Region, schon zu römischen Zeiten – in den Balkanländern, nördlich des Schwarzen Meeres und im Kaukasus. Bedeutende jüdische Gemeinschaften gabe es nahe des heutigen Odessa und auf den Halbinseln Krim und Taman. Archäologische Funde belegen jüdische Gemeinschaften in Phanagoria auf der Taman-Halbinsel schon um 51 A.D. In Pannonien (heute Ungarn) fand man jüdische Gravuren aus dem frühen 3. Jahrhundert. Es gibt Hinweise auf Synagogen aus dem 3. Jahrhundert in Nordbulgarien, nahe der rumänischen Grenze. Die meisten archäologischen Nachweise für alte jüdische Gemeinden in der Region sind älter als das Chasarische Imperium.

Wie historische und andere Beweise belegen, sind die Mehrheit der osteuropäischen Juden die Nachkommen von Juden aus Zentraleuropa (Deutschland, Böhmen und Mähren), deren Vorfahren von Rom, und davor vom Nahen Osten emigrierten. Mittelalterliche Chroniken liefern Hinweise, dass die Juden von Zentraleuropa nach Osteuropa bereits infolge der Kreuzfahrer-Massaker im 11. Jahrhundert flohen. Eine bedeutende Anzahl von Juden kam zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert nach Osteuropa, besonders nach Polen. Polnische Herrscher waren relativ tolerant, gewährten den Juden Schutz, garantierten ihnen religiöse Freiheit sowie das Recht für Reisen, Handel und Landbesitz. Dokumente, die das Herkunftsland von Juden im 14. Jahrhundert beispielsweise als Wrocław (Breslau) belegen, zeigen, die meisten kamen aus Deutschland.

Das 14. Jahrhundert war von Dutzenden von Juden-Vertreibungen in ganz Europa geprägt, was mehr Juden nach Polen brachte. Auch Edikte vertrieben die Juden aus Handel und Industrie, was noch mehr von ihnen veranlasste, woanders ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Um 1500 lebten nur 20.000-30.000 Juden in ganz Polen, von einer Gesamtbevölkerung von 5 Millionen. Bis 1575 war die allgemeine Bevölkerung auf 7 Millionen angewachsen, wobei der jüdische Anteil nun 150.000 ausmachte – ein Anstieg um das 5-fache. Polen galt um 1500 als sicherstes Land für Juden und wurde zur Wahlheimat für das Aschkenasi-Judentum.

Viele im mittelalterlichen Polen lebenden Juden hatten Jahrhunderte alte Nachnamen, die ihre Herkunftsregion verrieten: Bachrach (Bacharach), Frankfurter (Frankfurt), Landau (Landau), Mintz (Mainz), Shapiro (Speyer), Wiener (Wien).

Anders als die Chasaren-Theorie des Aschkenasi-Ursprungs sind die Abwanderungen von Juden von Zentraleuropa nach Osteuropa dokumentierte Geschichte.

Doch es gibt noch einen anderen Beweis, der die Spekulationen um den Ursprung der Mehrheit europäischer Juden beendete. Ironischerweise bezog sich Pfr. Raheb darauf, was seine Behauptungen gänzlich entkräftet.

Die DNA und die genetische Geschichte

Durch das Ordnen von Genen sind Bevölkerungsstudien in den letzten Jahren vorangekommen. Die Auswertung von DNA-Fragmenten durch Molekular-Biologen auf der Suche nach Gen-Abschnitten, die für bestimmte Krankheiten verantwortlich sind, führte auch zur Entdeckung einiger einzigartiger genetischer Mutationen, die spezifischen ethnischen Gruppen eigen sind, auch den Juden. Kurz gesagt: „jüdische“, „äthiopische“, „slawische“, „türkische“, und viele andere Gen-Marker, wurden identifiziert. Diese Marker ermöglichen es Historikern, vergangene Bevölkerungswanderungen nach zu verfolgen und die Bildung von ethnischen Gruppen auf Basis der genetischen Assoziation zu datieren.

Die Erkenntnisse verschiedener DNA-Studien, die Juden weltweit einbeziehen, zeigen, die meisten Aschkenasi- und andere Juden haben ähnliche „jüdische“ genetische Marker, und diese sind eng verwandt mit semitischen Gruppen. Mit anderen Worten, der Nahost- oder Semitenursprung der meisten Juden, inklusive der osteuropäischen Juden, wurde bestätigt. Obwohl eine Minderheit von Juden chasarischer Herkunft sein könnten, ist die Behauptung, die meisten Juden seien keine Semiten, sondern Chasaren, erwiesenermaßen falsch.

Zu Pfr. Rahebs Verdruss sind Juden in New York, Stockholm, Warschau, oder sogar in Jerusalem seine semitischen „Cousins“.

Jude auf Wunsch

Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft sind Betrachtungen zum Jüdischsein, basierend auf den Genen, völlig irrelevant. Wie ein Rabbi sagte: „Trotz der Erkenntnisse aus den Studien werden wir nie die DNA zum Nachweis von Jüdischsein benutzen.“ Davon abgesehen hat das jüdische Volk in allen Jahrhunderten Konvertiten stets willkommen geheißen. Ruth, die Moabiterin, wurde Teil des jüdischen Volkes und eine Vorfahrin des Königs David vom Stamme Juda und sogar von Jesus. Viele Perser wurden nach dem Sieg über Haman und seine Kohorten Juden, wie das Buch Esther berichtet. Auch ein wenig Chasaren-DNA wurde Teil des jüdischen Genpools, doch wen stört es? Juden fühlen sich den Theorien über Blutlinien-Reinheit nicht verpflichtet. Ein Konvertit wird ebenso als jüdisch angesehen wie Abraham oder Mose.

Pfr. Rahebs Versuch, die Juden zu delegitimieren, sollte in dem größeren Zusammenhang einer palästinensischen Propaganda-Kampagne gesehen werden, die Juden ihr Recht auf Israel aberkennen will. Trotz der historischen Absurdität der angewandten Behauptungen zeigen die jüngsten Anti-Israel-Entscheidungen der UNESCO, dass wiederholte Lügen Frucht tragen. Dies erfordert unsere Antwort und unsere Wachsamkeit.