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Die Midrasch* auf dem Berg, Teil 2

War Jesus uneins mit den Rabbinern?


In unserer letzten Ausgabe sprachen wir über die Bergpredigt. Darin lehrte Jesus ausdrücklich die getreue Befolgung der Thora bzw. der Gesetze und betonte deren dauerhafte Gültigkeit durch Hinweis auf eine rabbinische Schriftauslegung über das „Jota“ und den „Tüttel“.

Jetzt werden wir uns kurz mit den 6 kontrastierenden Aussagen Jesu in dieser Predigt befassen. Jede beginnt mit: „Es ist gesagt …“ und endet mit, „ich aber sage euch …“

Zum Beispiel: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge und Zahn um Zahn!‘ Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar“ (Matt. 5, 38-39).

Die vordergründige Meinung einer solchen Aussage deutet an, die erste Feststellung sei schlechter, nicht korrekt, weniger zutreffend, oder sogar falsch. Die zweite Äußerung ist überlegen. Im Grunde genommen heißt das, nicht A, sondern B ist wahr, gültig, und so weiter. Jesus scheint das biblische Prinzip der Gerechtigkeit „Auge um Auge“ ersetzen zu wollen mit „der biete auch die andere Backe dar.“

Wenn dies jedoch der Fall ist, scheint es, als würden diese Aussagen Jesu früherem Anspruch, „denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen“ (5, 17), widersprechen. Schafft Jesus nun das Gesetz des Mose ab, um neue Standards aufzustellen, oder was?

Nicht A, aber B“ in seinem hebräischen Kontext

Das Format „nicht A, aber B“ heißt nicht zwingend, dass A durch B ersetzt wird, zumindest nicht im hebräischen Kontext. Dies mag paradox klingen, ist aber ein Schlüssel zum Verstehen der Bergpredigt.

Es gibt zahlreiche Aussagen in der Heiligen Schrift und in rabbinischer Literatur, die das „Nicht A-, aber B“-Format verwenden. Sie beginnen mit einer Behauptung, die ungewöhnlich, vielleicht sogar fremdartig klingt, und einer bekannten Tatsache entgegensteht. Das ist der „Nicht A“-Teil. Durch die Kontrastierung einer Aussage, die für uns als wahr gilt, soll unsere Aufmerksamkeit gewonnen werden. Wir sollen erkennen, dass es noch eine viel tiefere Bedeutung gibt, die in der zweiten Hälfte, dem „aber B“-Teil ausgedrückt wird.

Dieses in der hebräischen Literatur weit verbreitete Stilmittel zur Betonung eines bestimmten Punktes ist das Äquivalent zum Unterstreichen. Wie die Rabbis erklären, heißt das, nicht A ist die Hauptsache oder der wichtigste Punkt, sondern B ist die tiefer liegende oder primäre Botschaft (Berachot 12b). Die „Nicht A“-Aussage macht das vorherige Prinzip oder die vorherige Tatsache nicht ungültig. Vielmehr hilft sie, gewichtigere Aspekte eines komplexen Sachverhaltes aus der Heiligen Schrift darzulegen.

Wir werden anhand von 2 Beispielen sehen, wie dies funktioniert. Das erste ist aus einer rabbinischen Predigt, das zweite aus der Bibel selbst.

Die Predigt des Rabbis

Hier ein Zitat eines bekannten rabbinischen Auslegers über den Bibelvers Jes. 54, 13 (Hervorhebung durch mich): „‚Und alle deine Kinder [banajich im Hebräischen] werden von dem HERRN gelehrt, und der Friede deiner Kinder [wieder banajich] wird groß sein.‘ Lest nicht: ‚deine Kinder‘ [banajich], sondern ‚deine Baumeister‘ [bonajich]“ (Berachot 64a).

Der rabbinische Ausleger stellt eine Behauptung auf, die im Widerspruch zur bekannten Tatsache steht, indem er sagt: „Lest den Bibeltext nicht so, wie er da steht“ (d. h. „nicht A“) und schlägt eine Alternative vor, „lest stattdessen“ (d. h. „aber B“). Damit ist die Aufmerksamkeit des Adressaten geweckt, weil der Ausleger es wagt, ein Wort der Heiligen Schrift von „Kindern“ in „Baumeister“ zu ändern.

Bedenkt jedoch das Folgende: Diese Änderung wird im Hebräischen durch das Ersetzen eines einzigen Vokals erreicht. Von alters her wurde die hebräische Bibel in Schriftrollenform ohne Vokale geschrieben. Die Vokalklänge wurden jahrhundertelang durch mündliche Überlieferung weitergegeben und erst später von den Masoreten notiert. Eine kleine Änderung eines Vokals, wie von „banajich“ in „bonajich“ ergibt ein völlig anderes Wort mit einer anderen Bedeutung.

Wie der informierte jüdische Zuhörer weiß, wollte der Ausleger nicht wirklich die Bibel abändern. Er wollte einfach eine weitere Bedeutungsebene vermitteln: nämlich, dass die, welche sich mit dem Studium des Wortes Gottes beschäftigen, die wahren, geistlichen Baumeister der Welt sind und den Frieden vergrößern.

Gottes Predigt

Noch aufklärender ist es, dass auch Gott das, „nicht A-, aber B“-Format etliche Male in der Bibel verwendet.

Hier ein Beispiel: „So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Tut eure Brandopfer und anderen Opfer zuhauf und esset Fleisch. Denn ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führte, weder gesagt noch geboten von Brandopfern und andern Opfern; sondern dies gebot ich ihnen und sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein; und wandelt auf allen Wegen, die ich euch gebiete, auf dass es euch wohl gehe“ (Jer. 7, 21-23).
Unzufrieden mit dem ständigen Sündigen des Volkes, sagt Gott ihnen, sie könnten genauso gut all die Opfer selbst essen, inklusive derer, die ganz auf dem Altar verbrannt werden sollten, denn Er könne sie nicht länger annehmen.

Dann macht Gott eine überraschende Aussage. Er sagt, er habe Israel keine Gebote über Brandopfer oder andere Opfer gegeben, als sie aus Ägypten auszogen (Vers 22; „nicht A“), sondern habe ihnen lediglich gesagt, sie sollten Ihm zu ihrem eigenen Besten gehorchen (Vers 23; „aber B“). Stimmt der erste Teil? Ganz sicher nicht.

Denkt daran, dass Israel in Vorbereitung des Exodus aus Ägypten Gebote bezüglich des Passah-Opfers bekam (2. Mo. 12, 3-11. 21-27). Beim Geben der 10 Gebote instruierte Gott Israel bezüglich eines Altars und Opfern (20, 21, in einigen Übersetzungen Vers 24).

Auch als Mose 40 Tage und Nächte lang auf dem Berg Sinai war, erhielt er Anweisungen, einen Altar zu bauen (27, 1-8) und Instruktionen über Opfer zur Weihe, zur Sühnung und für tägliche Opfer (beachte insbesondere 29,1-46; 30, 10. 20. 28; 31, 9; siehe auch 40, 29). Gott hat in der Tat Israel Opfer befohlen von der Zeit an, da es Ägyptenland verließ.

Gott lügt nicht

Da Gott nicht lügt, was bedeutet das also? Wie oben erwähnt, meint das „nicht A-, aber B“-Format Folgendes: Nicht A ist der Hauptaspekt, sondern B ist der Hauptaspekt. Was sich wie eine unwirkliche Aussage anhört („Ich habe Israel keine Gebote gegeben bezüglich Opfern“) ist, tatsächlich nur ein Mittel zur Betonung der gewichtigeren Sache, nämlich, dass es primär um den Gehorsam Gott gegenüber geht.

Da Opfer also gültig sind (sie sind immerhin von Gott bestimmt), sollte man nicht routinemäßig davon abhängig werden und es dabei an Aufrichtigkeit mangeln lassen. Opfer sind insofern sekundär, als dass sie ein Korrekturprocedere nach dem Sündigen sind. Tatsächlich aber macht Gehorsam die Notwendigkeit vieler Opfer überflüssig.

Begegne der Beleidigung mit Stillschweigen

Mit einem auf das Hebräische eingestellten Ohr, können wir jetzt verstehen, was Jesus in der Bergpredigt meinte.

Es ging ihm nicht darum, die Richtlinien des Gesetzes zu ändern, damit Richter mit richterlicher Fairness urteilen konnten. Vielmehr war es Jesu primäres Anliegen, die Neigung des Menschen zur Rache aufzuzeigen.

Im täglichen Leben liegt es in der Natur des Menschen, die Dinge genau gegeneinander aufzurechnen, was ihn in einen nicht endenden Kreislauf von Hass oder Gewalt treibt. Dies führt oft zu Rechtsstreitigkeiten vor Gericht. Doch Gerichte sind, im besten Falle, ein begrenztes Mittel zur Wiederherstellung geschädigten Eigentums. Für gewöhnlich können sie bitteren Groll zwischen den im Clinch liegenden Parteien nicht beseitigen. Ein sanftmütiger Geist, Zugeständnisse, ja sogar Stillschweigen, angesichts von Angriffen und Beleidigungen werden in vielen Fällen die Notwendigkeit eines Prozesses verhindern und zu einem größeren gemeinschaftlichen Frieden führen.

Nicht der ist ein Jude, der …

Dieses Verstehen des „nicht A-, aber B“-Formats hat über die Bergpredigt hinausgehende Auswirkungen. Hier ein weiteres Beispiel dazu: Paulus wendet sich an Juden, als er sagt: „Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben. Sein Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott“ (Röm. 2, 28-29).

Aus seinem jüdischen homiletischen Kontext gerissen, wurde dieser Text ein klassischer Beweis für die Ersetzungstheologen (Verfechter der Enterbungslehre), mit der sie ihre Behauptung untermauern, Israel sei verworfen und durch die Kirche ersetzt worden.

Doch Paulus, der einen Vorteil in der Beschneidung sah (Kap. 3, 1-2) und der einen Jünger namens Timotheus beschnitt, verwarf offensichtlich weder sein Volk, noch die Vorschriften des Gesetzes über die körperliche Beschneidung. Frei von der missbräuchlichen Verwendung durch Ersetzungstheologen, betont der Text lediglich den Hauptpunkt, man solle Gott mit einem beschnittenen Herzen dienen, d. h. mit Liebe und bereitwilliger Unterwerfung, einem Begriff, der seit den Tagen des Mose bekannt ist (5. Mo. 10,16; 30, 6; Jer. 4, 4).

Wenn Christen sowohl den Tanach (das Alte Testament) als auch das Neue Testament, inklusive der Paulinischen Briefe, aus hebräischer Sicht lesen (d. h. unter Einbeziehung des jüdischen Kontexts), kann es ihnen helfen, diese Schriften besser zu verstehen. Historische Missverständnisse über das jüdische Volk werden so behoben – Vorstellungen, die heute nur allzu oft auf Israel übertragen werden.

*eine rabbinische Predigt