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Sehen und doch nicht sehen

– Eine Warnung an Europa und alle Länder


Am 20. Juni 2019 hat Jonathan Sacks, der frühere Oberrabbiner des Vereinigten Königreichs (1991-2013), sich an das britische Oberhaus des Parlaments, das House of Lords, gewandt. Eloquent und mit wenigen Worten hat der bekannte britische Theologe, Autor und Politiker auf die große Ironie der modernen Geschichte verwiesen und vor Europas rapidem Abstieg in moralische Verderbtheit gewarnt. Seine Botschaft war simpel: Stillschweigen heißt Billigen. (Kursivschrift-Hervorhebung durch Red.)

– Red.

Meine Herren Lords, ich bin der edlen Baroness Berridge äußerst dankbar, dass sie dieses Gespräch initiiert hat, ebenso den vielen Rednern, die den jüdischen Gemeinschaften, hier und anderswo, vermittelt haben, dass wir nicht alleine sind, dass wir Freunde haben. Das ist sehr wichtig in dieser Zeit.

Ich bin gerade von einer Konferenz in Warschau zurückgekehrt. Ich kenne diese Stadt nicht sehr gut. Und ich war erschüttert, als ich erfuhr, dass das Warschauer Ghetto, das es dort zwischen November 1940 und Mai 1943 gab, relativ im Zentrum der Stadt gelegen war. Mit seinen knapp 2,75 m hohen Mauern mit Stacheldraht oben drauf und den 400.000 dort lebenden Juden musste jeder in Warschau von seiner Existenz gewusst haben.

Und genau dort hat man Juden systematisch versklavt und verhungern lassen. Im Sommer 1942 wurden 254.000 von ihnen mit dem Zug in den Tod geschickt, ins Gas in das Vernichtungslager Treblinka. Im April und Mai 1943 begannen die Deutschen mit der Zerstörung des Ghettos und der Vernichtung seiner Bewohner. 300.000 von ihnen starben durch Kugeln oder wurden vergast; 92.000 starben durch Typhus und Hunger.

All das geschah für alle sichtbar im Zentrum einer der großen Städte Europas, und keiner protestierte. Stellen Sie sich 400.000 Hindus oder Sikhs vor, die hinter Ghetto-Mauern mitten in London eingesperrt wären. Stellen Sie sich vor, wie täglich Menschen an diesen Mauern vorbeilaufen, wissend, dass dahinter Tausende sterben oder in den Tod geschickt werden, und keiner sagt ein Wort. Wie konnte das geschehen?

Es konnte geschehen, weil im 19. Jahrhundert im Herzen des emanzipierten Europas der Antisemitismus, den man einst als primitives Vorurteil des Mittelalters abtat, eine Wiedergeburt erlebte, weil er mutierte und in ganz Europa gefördert und toleriert wurde. Und dabei war er keinesfalls auf Deutschland beschränkt. Wäre man an der Schwelle zum 20. Jahrhundert gefragt worden, wo seine Epizentren lagen, wäre eine sinnige Antwort gewesen, in Paris rund um den Prozess zur Dreyfus [-Affäre] und in Wien unter dessen Bürgermeister Karl Lueger. Menschen, die es besser hätten wissen müssen, schenkten dem Respektabilität. Und dadurch wurde ein Nährboden für ein großes Verbrechen gegen die Menschlichkeit geschaffen.

Heute sind wir wieder an diesem Punkt. Trotz noch lebender Zeitzeugen des Holocaust, ist der Antisemitismus zurück, so wie im 19. Jahrhundert, gerade als die Menschen meinten, sie hätten für immer den Hass der Vergangenheit besiegt. Heute gibt es kaum ein Land auf der Welt, und sicher kein einziges Land in Europa, in dem sich die Juden sicher fühlen. Meine Herren Lords, es ist schwer betonen zu müssen, wie ernst die Lage ist, nicht nur für Juden, sondern auch für die von uns geteilte Menschlichkeit. Und es geht nicht nur darum, was dies jetzt bedeutet, sondern um künftige Gefahren, die sich dadurch abzeichnen.

Eine Gesellschaft, oder in dieser Sache eine politische Partei, die Antisemitismus toleriert, die jegliche Form von Hass toleriert, hat jegliche moralische Glaubwürdigkeit verloren. Man kann keine Zukunft auf den maliziösen Mythen der Vergangenheit aufbauen, man kann nicht Freiheit aufrechterhalten auf der Basis von Feindseligkeit und Hass.

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