Artikel Featured

Was steckt hinter dem Aufruhr in Israel?


Die Unterstützer Israels wurden in letzter Zeit von Bildern aus Israel erschüttert. Wir erhielten sogar Anrufe aus dem Ausland mit der Frage: „Was ist los bei euch?“ In Tel Aviv demonstrieren die Massen auf der Straße. Mobs errichten Barrikaden auf Hauptstraßen und legen Feuer. Die Polizeieinsatztruppen setzen Wasserwerfer ein. Es ist die Rede von Diktatur. Sogar von Bürgerkrieg.

Der Grund sind die Justizreformen, die von der rechtsgerichteten Regierung des Premierministers Benjamin Netanyahu angekündigt wurden. Die Pläne würden die Macht des Obersten Gerichtshofes Israels eingrenzen und der Regierung die Autorität über die Ernennung von Richtern geben.

Die linksgerichtete Opposition von Netanyahus Justizreform bezeichnete die Reformen als einen Angriff auf die Demokratie. Sie bedienen extremistischen Sprachgebrauch, der die Bürger einschüchtern und deren Gegenwehr anfachen soll: „undemokratisch“, „Diktatur“, „Staatsstreich“. Einige verglichen Netanyahus Bestreben mit der Machtergreifung der Nazis in den 1930er Jahren.

So ist die Lage Mitte Mai. Da die Situation sich laufend wandelt, wird es sicher in den kommenden Wochen noch weitere Entwicklungen geben.

Warum hat Netanyahus Koalition die Reformen vorgeschlagen?

Der Oberste Gerichtshof Israels ist bekannt als das mächtigste, unabhängigste Gericht jeglicher Nation in der westlichen Welt. Mitte der 1990er Jahre begann das Gericht, seine Macht unabhängig über seine vorherigen Befugnisse hinaus auszuüben. Es folgte ein Muster des gerichtlichen Aktivismus, bei dem der Oberste Gerichtshof sich nicht nur an Rechtsangelegenheiten oder Bürgerrechten beteiligte, sondern tatsächlich auch an Regierungsgeschäften. In einem außergewöhnlichen Schritt hatte es das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ bei Regierungsbeschlüssen angewandt und sich dabei selbst ein Einspruchsrecht bei Gesetzgebungen jeglicher Art eingeräumt.

Damals rührte sich sofort Kritik an der Übergriffigkeit des Gerichts. Derartige Kritik wurde jedoch ausgebremst durch die Amtsenthebung aller Bediensteten der Justiz, die es wagten, die Notwendigkeit einer Reform zu erwähnen. Die Seilschaften des Rechtssystems haben sämtliche interne Opposition verhindert.

Nun hat Netanyahus Koalition dem Obersten Gerichtshof vorgeworfen, wie eine unautorisierte zweite Regierung aufzutreten, die lediglich davon ausgeht, dass sie die Macht hätte, sämtliche Beschlüsse der gewählten Regierung zu vernachlässigen.

Drüber hinaus hat die Koalition vorgeschlagen, die Auswahlmethode der Richter am Obersten Gerichtshof zu ändern. Derzeit haben der Oberste Gerichtshof und Mitglieder der Justiz die Mehrheitsstimmen im Auswahlkomitee. Im Grund wählen Richter die Richter aus, was für eine homogene rechtliche und politische Zusammensetzung der Nachbesetzungen sorgt. Und aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass der Oberste Gerichtshof eine Agenda hat. Netanyahus Vorschlag würde der Regierung die Mehrheitsstimmen im Auswahlkomitee geben, wie es auch in den USA und den meisten westeuropäischen und OECD-Staaten der Fall ist. Selbst in den wenigen Nationen, die keine Ernennungen seitens der Regierung zulassen, ist es nicht möglich, dass das Oberste Gericht derartig die Gesetzgebung aushebelt, wie es der Oberste Gerichtshof Israels selbst einfordert.

Wer schützt die Demokratie?

Die israelische Linke prangert Netanyahus Vorstoß als Anschlag auf die Demokratie an, dabei ist tatsächlich das Gegenteil der Fall.

Die meisten würden zustimmen, dass Demokratien ein System der gegenseitigen Kontrolle erfordern, um einen Machtmissbrauch von jeglicher Seite der Regierung zu verhindern, sei es durch die Exekutive, Legislative oder Judikative. Die Linke behauptet, dass Netanyahus Reform ein Ungleichgewicht an Macht erschaffen würde und damit Israels Demokratie bedroht. Diese Behauptung ignoriert jedoch die juristische Machtergreifung durch den Obersten Gerichtshof während der vergangenen 30 Jahre. Es gab keine Kontrolle über die Macht des Obersten Gerichtshofes. Das Gericht hat dieses Ungleichgewicht ausgenutzt und genau das getan, wessen die Linke nun Netanyahu bezichtigt.

Ironischerweise ist es genau die geplante Reform, die in Israel eine repräsentative Demokratie wiederherstellt. Die Macht wird den 120 gewählten Mitgliedern der Knesset, des Parlaments, wieder zurückgegeben, genau jene Macht, die ein nicht gewähltes Komitee von 15 Richtern an sich gerissen hatte, was im Endeffekt einer elitären Oligarchie gleichkommt.

Der frühere Juraprofessor an der Harvard Universität, Professor Alan Dershowitz, ein Experte für Verfassungsrecht und bekennender liberaler Demokrat sagte: „Selbst, wenn alle der geplanten Reformen durchgesetzt werden würden… dann würden in Israel dieselben Verhältnisse geschaffen… wie in Kanada, Neuseeland oder Australien oder viele europäische Länder… die Reform wird die Demokratie nicht unterminieren. In mancher Hinsicht würde Israel dadurch demokratischer werden.“

Warum war die Opposition so vehement?

Es gab eine politische Verschiebung in der israelischen Gesellschaft. In den letzten 5 Wahlen erhielten rechtsgerichtete Parteien mehr Stimmen als linksgerichtete. Die Israelis sind konservativer geworden. Die linken Parteien sehen ihre Felle davonschwimmen. Tatsächlich zählen einige der ehemals größten linken Parteien laut Umfragen heute zu den kleinsten.

Nach dem Verlust von Wählerstimmen richteten die Linken die Hoffnung auf die Erreichung ihrer Ziele an das höchste Berufungsgericht Israels. Mit der Hilfe von Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs) stellten sie regelmäßig den politischen Kurs der Regierung in Frage, indem sie sich an einen wohlwollenden, traditionell linksgerichteten Obersten Gerichtshof wandten. Netanyahus Reform hätte diese Manöver durch die Hintertür seitens der Linken beendet.

In einer fortfahrend gut finanzierten und koordinierten Kampagne, welche einen äußerst extremistischen Sprachgebrauch bediente, hetzte Israels Linke gegen die Reform, verteufelte Netanyahu und seine Pläne. Aktivisten sprachen von Bürgerkrieg, bewaffnetem Widerstand und deuteten Attentate an.

Die israelischen Nachrichtenmedien sind wie meistens in der westlichen Welt vorwiegend linksgerichtet und stellten sich in den Dienst der Sache. Die Berichterstattung war schonungslos und immer nur gegen die Reform, obwohl sämtliche Umfragen zeigten, dass 60 % der Bevölkerung für die Reform waren (nicht unbedingt Netanyahus Vorschlag, aber zumindest irgendeine Reform). Die Schulbehörden schlossen Schulen; die Histadrut (die größte Gewerkschaft) rief zum Generalstreik auf; einige Reservisten des Militärs erschienen nicht zum Manöver (theoretisch stellt das ein unerlaubtes Fehlen und somit Desertieren dar). Findige Vertreter jeglicher Art schlossen sich dem Kampf an. Auch LGBTQ-Kampagnenführer, so dass Gay-Pride-Flaggen zwischen den israelischen Flaggen aufblitzten bei den Demonstrationen gegen die Regierung. Eine bunte Mischung linksgerichteter Aktivisten hat sich zusammengetan, um Netanyahus Reformen zu vereiteln.

Sogar US-Präsident Joe Biden riet Netanyahu öffentlich, die Reformkampagne zu beenden, wobei er sich in Israels Innenpolitik einmischte und die Proteste weiter anfachte. Außerdem verursachte dies eine Krise in der Beziehung zwischen Israel und den USA. Wie ironisch. Das ist ein Fall von „Wasser predigen und Wein saufen“, da Biden selbst in Betracht gezogen hatte, sich mit dem Obersten Gerichtshof der USA anzulegen. Er gab eine Studie in Auftrag zur „Aufstockung“ des Gerichts, d.h. zur Erhöhung der Anzahl von Richtern am Gerichtshof, um linksgerichtete Urteile und die progressive Zielsetzung für die nächsten Jahre sicherzustellen. Auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris hat sich gleichermaßen öffentlich für die Aufstockung des Gerichtshofes mit linksgerichteten Richtern ausgesprochen.

Warum hat die Rechte dabei versagt, sich zu organisieren?

Obwohl es auch einige große Gegendemonstrationen für die Reform gab, hat sich der Hauptbefürworter, nämlich Netanyahu selbst, 3 Monate lang öffentlich in Schweigen gehüllt über die Reform. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Israels Generalstaatsanwalt, Teil der Justiz, hatte ihm verboten, sich öffentlich als Befürworter auszusprechen. Netanyahu muss sich wegen Voreingenommenheit zurückhalten, sagte der Generalstaatsanwalt, weil er persönlich von der Einsetzung der Reformen profitieren würde, also ein Interessenskonflikt. Keiner der Reformgegner einschließlich des Generalstaatsanwalts und der Richter wurden auf diese Art und Weise zum Schweigen gebracht. Tatsächlich hielt die aktuelle Präsidentin von Israels Oberstem Gerichtshof, Esther Hayut, im Januar 2023 eine feurige Rede gegen die Reform. Wie kann diese Rede keinen Gewissenskonflikt darstellen?

Professor Dershowitz kommentierte, dass es bei den Anti-Reform-Demonstrationen nicht um die Justizreform geht. Der größte Anteil am Protest gegen die Reform dreht sich darum, dass sie von einer rechtsgerichteten Regierung kommt. „Niemand würde sich daran stören, wenn genau dieselben Pläne von einer Regierung der Mitte oder linksgerichteten Regierung kämen… Es gäbe keine Demonstrationen.“

Die Einschüchterung hat funktioniert

Das bloße Nichterscheinen von Soldaten zum Dienst aus einer Protesthaltung heraus hat für viele innerhalb des Militärs ausgereicht, um die Regierung zu warnen, dass sie zurückweichen sollte. Gehorsamsverweigerung wurde als Bedrohung betrachtet, welche die israelische Verteidigungsbereitschaft schwächen könnte. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung für Reform war, fingen viele an zu wanken und sich für mehr Dialog auszusprechen, bevor die Reformpläne fortgesetzt werden.

Aufgebrachter, progressiver Kampfgeist und schrille Einschüchterung haben in neulichen Jahren in der politischen Landschaft Amerikas funktioniert. Die israelische Linke hat sich das Drehbuch von der amerikanischen Linken abgeschaut und große Verwirrung gestiftet. Als Konsequenz daraus hat Netanyahu vorläufig die Reformen auf Eis gelegt.

Die Proteste gegen die Reform drehten sich überhaupt nicht um Demokratie, sondern einfach um einen Verlust von Macht und Einfluss. Es ist pure Ironie, dass die Pläne tatsächlich ein demokratischeres politisches System in Israel herstellen würden. Was die Leute auf ihren Fernsehbildschirmen sahen, war eher eine Debatte über Linke gegen Rechte; Säkularität gegen Religion; aufgebrachter Progressivismus gegen traditionelle Werte und Moral; dieselben Schlachten, die in vielen westlichen Nationen ausgefochten werden.

Das in Israel zu sehen, sollte nicht zu Verwirrung oder Verzweiflung führen. Es geht hier sogar noch mehr um ernsthaftes Gebet. Unser Ideal sollte das des Psalmisten sein: „Siehe, wie fein und lieblich ist’s, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!“ (Ps. 133, 1).