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Neuverteilung der Sitze

– Eine Neuaufstellung der Parteien


Ein Bekannter von mir in Jerusalem leitet Besichtigungstouren über historische jüdische Gemeinden aus ganz Europa für Israelis. Vor einigen Jahren schwärmte er, dass Moskau sein Lieblingsziel sei und Juden dort in ganz Europa am sichersten seien.

Mein Eindruck war, dass er sich in die Irre leiten ließ und auf ein vorübergehendes Phänomen reagierte. Die letzten beiden Monate haben bewiesen, dass meine Skepsis durchaus berechtigt war. Tausende russischer Juden machen jetzt Alijah (Einwanderung nach Israel), weil sie Angst haben um ihre Zukunft, jetzt wo der russische Präsident sich als brutaler Tyrann entpuppt hat.

Die Welt verändert sich auf eine Art und Weise, die noch die nächsten Jahrzehnte beeinflussen wird. Auch Israel ist davon betroffen.

Es ist reine Ironie. Wladimir Putin versucht, Russlands Status als Supermacht wiederherzustellen, indem er sich die Ukraine in einer schnellen „Spezialmilitäroperation“, wie er es nennt, unter den Nagel reißt. Anstatt die alte russische Pracht wiederherzustellen, sind es die westlichen Mächte, die zu einer starken, einheitlichen Kraft geworden sind.

Die Kooperation in der Europäischen Union ist höher als in den letzten Jahren, während nun Millionen von ukrainischen Flüchtlingen aufgenommen werden. Links ausgerichtete und neutrale Nationen wie Schweden und Finnland erhöhen ihre Verteidigungsbudgets drastisch. Auch haben sie kürzlich einen Beitritt zur NATO beantragt. Deutschland erhöht seine Verteidigungsausgaben um die Hälfte. Eine unaufhörliche Flut von Waffen wird von mindestens 40 Ländern in die Ukraine geliefert. (New York Times, 26.04.22), zusammen mit massiven Mengen an humanitären Hilfsgütern.

Die Abhängigkeit Westeuropas vom russischen Gas und Öl wird reduziert, obwohl es Monate dauern wird, um sich komplett abzunabeln. Auch die Vereinigten Staaten hatten russisches Öl gekauft. Momentan verdient Russland immer noch eine Milliarde Euros pro Tag mit seinen Energieexporten.

Israelische Unterstützung

Israel ist auch involviert. Außenminister Yair Lapid sagte, dass Israel eine „moralische Verpflichtung hat, zu helfen.“

Am 28. März sagte der israelische Botschafter Daniel Meron während einer Diskussion beim Round Table des European Leadership Network: „Israel hat das gewaltige Ausmaß der humanitären Krise erkannt und war die erste Nation, die ein Feldlazarett für ukrainische Flüchtlinge errichtet hat. Ein 70-köpfiges ärztliches Team der Sheba und Schneider Hospitäler bei Tel Aviv hat Tausende von Patienten behandelt.

Sofort wurden 3 Flugzeuge mit Hilfsgütern für die Ukraine gesandt. Die größtmöglichen Generatoren, die verfügbar waren, wurden nach Lwiw geschickt, um Strom zu erzeugen. 20 Nichtregierungsorganisationen [NGOs] schickten Lehrer, Sozialarbeiter und Psychologen, um Flüchtlinge zu behandeln, die unter Traumata und PTBS litten. IsraAid schickte 35 Psychologen nach Moldawien und Rumänien zu einem monatelangen Einsatz.“

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Der Vorteil der Neutralität

Bei den Vereinten Nationen hat Israel den russischen Einmarsch in die Ukraine verurteilt, aber es wurde damit gezögert, eine aktive Position gegen Russland zu beziehen. Israel unterhält gute Beziehungen sowohl mit Russland als auch mit der Ukraine und versucht, neutral zu bleiben.

Dies erlaubt es Israel, Vermittler zwischen Russland und der Ukraine zu sein. Natan Sharansky, ein früherer israelischer Vize-Premierminister und Kabinettsminister, wundert sich: „Vor 70 Jahren hat man die Juden nirgendwo hingehen lassen und sie landeten in Auschwitz. Jetzt bittet die Welt den israelischen Premierminister Naftali Bennett, zu versuchen, als Mediator für Frieden zwischen Russland und der Ukraine zu fungieren.“ Sharansky wurde in Donetsk in der Ukraine geboren, wo der Krieg seit Monaten andauerte, und er war in der früheren Sowjetunion neun Jahre lang in Haft als refusenik und bekam keine Erlaubnis, auszuwandern.

Bis heute blieben Bennetts Bemühungen erfolglos, aber es gibt noch andere Gründe für Israels Neutralität:

Russland hat eine starke Militärpräsenz in Syrien. Es hat israelische Einsätze in Syrien toleriert, um Waffenlieferungen an die Hisballah zu stoppen. Bennett möchte diesen Vorteil nicht gefährden.

Bei einer Provokation könnte Russland den Libanon, Syrien und vor allem den Iran mit mächtigeren Waffensystemen und Technologie beliefern, als sie sowieso schon haben, oder aus Rache könnten jüdischen Bürgern in Russland Schaden zugefügt werden.

Russland ist tief verstrickt in Verhandlungen über einen Atomdeal mit dem Iran. Israel möchte die Zusammenarbeit mit Russland, um zu verhindern, dass der Iran die Bombe bekommt. Der Iran wird immer dreister im Export von Terror, vor allem da die Amerikaner unter Präsident Biden als schwach wahrgenommen werden und an Glaubwürdigkeit mangeln. Der amerikanische Rückzug aus Afghanistan war eine diplomatische Katastrophe mit weitreichenden internationalen Konsequenzen.

Den Bedürftigen zu helfen, ist am wichtigsten

Das sind kritische Bedenken, aber nicht alle sind sich einig, dass sie am wichtigsten sind.

Generalmajor Amos Yadlin, der frühere Chef des israelischen Geheimdienstes argumentiert z. B., dass Israel eine moralische Verpflichtung hat, der Ukraine zu helfen, die eine frei gewählte, demokratische Regierung hat, die zufällig von einem Juden geleitet wird. Wenn eine Nation mit westlichen Werten ähnlich denen von Israel angegriffen wird, sollte Israel zu deren Verteidigung kommen. (ELNET, 07.03.22)

Neben der Lieferung von humanitärer Hilfe beteiligt sich Israel wie die USA und andere Nationen fast sicher auch in geheimen Hilfsaktionen für die Ukraine.

Dennoch gibt es Begrenzungen. Die Iron Dome-Technologie kann nicht exportiert werden. Israel hat nicht genügend Einheiten für den eigenen Gebrauch, es bedarf monatelanger Ausbildung, bevor sie eingesetzt werden kann und sie darf vor allem nicht in die Hände von Feinden fallen. Finnland teilt z. B. eine lange Landesgrenze mit Russland, es könnte daher am Kauf interessiert sein. Bei einem unzureichenden Sicherheitszustand könnten russische Agenten jedoch an die Technologie herankommen.

Generalmajor Amos Yadlin, Chef des israelischen Geheimdienstes

Israel wird auch nicht seine Soldaten senden, um in fremden Kriegen zu kämpfen. Aus demselben Grund hat Israel nie verlangt oder erwartet, dass andere Nationen helfen, in einem israelischen Kampf zu kämpfen.

Momentan schauen die Nationen der Welt zu, wie Israel als Mediator versucht, einen Waffenstillstand zu erwirken. Ob erfolgreich oder nicht, Israel wird dafür einigen Respekt bekommen. Außerdem besteht nun ein größeres Verständnis für Israels eigenes Verteidigungsbedürfnis, jetzt wo Krieg und Zerstörung sich zum ersten Mal seit Jahrzehnten nach Europa ausgebreitet haben.

Yadlin kommentierte (ELNET, 28.03.22), dass Israels früherer Außenminister Schimon Perez, ein eingefleischter Sozialist, glaubte, dass Regierungen nicht mehr wichtig seien, nur noch große Technikkonzerne würden gebraucht, um zu verwalten, zu produzieren und zu liefern, was die Welt braucht.

Aber „die Welt ist nicht so einfach, wie COVID-19 und der russisch-ukrainische Krieg bewiesen haben“, sagt Yadlin. Die „sanfte Macht“ von Sanktionen und Cyberkrieg existieren, aber militärische Verteidigung, Raketen und Bomben (harte Macht) auch, und sie sind genauso notwendig wie Staatsgrenzen.

Die Bedrohung, dass aus dem Konflikt ein Atomkrieg wird, ist real, argumentiert Yadlin, und die Ukraine hat 1994 einen Fehler gemacht, als sie ihren Nachbarn traute und zu einer Nicht-Atommacht wurde.

Die israelische Neutralität mag nicht andauern

Neutralität mag zwar die aktuelle Realität sein, aber die Umstände könnten sich rasch ändern. Russland spielt nach seinen eigenen Regeln und nicht nach internationalen Menschenrechtskonventionen. Es kann sich gegen Israel wenden, wenn es ihm nützlich scheint, hat das auch in der Vergangenheit getan. Das entspräche der Ansicht einiger orthodoxer Rabbiner und gelehrter Christen, die Russland und seine massive Armee erkennen in Hesekiel 38 (Verse 2, 15) und 39 (Verse 1, 11) im Krieg des Gog von Magog, dem Prinzen von Rosch in den Weiten des Nordens. Der Einmarsch in der Ukraine, der Krim und in Georgien sind Trittsteine Richtung Süden auf dem Weg nach Jerusalem.

Wir sind Augenzeugen eines Jahres, das einen Wendepunkt markiert und in dem sich alles verändert: Ideologie, politische und militärische Strategie, Wirtschaft und Energie. Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein.